Alter Mann, was nun? So konnte man die Bilder auf der 16. Etappe des Giro d´Italia deuten, als Alejandro Valverde im Mai inmitten einer Ausreißergruppe den Mortirolo-Pass hinaufheizte. Umgeben war der 42-jährige Spanier von jungen Burschen wie Thymen Arensman, 22 Jahre alt, und Lennard Kämna, 25 Jahre, – Rennfahrer, die auch seine Söhne sein könnten. Bei einer Tempoverschärfung seiner jungen Wegbegleiter während der Bergfahrt winkte der Oldie nur ab, ganz nach dem Motto: Wieso wollt ihr meinem alten Körper jetzt schon solche Exzesse zumuten? Wir haben doch noch mehr als 80 Kilometer vor uns?
Valverde hielt sich meist als Beobachter am Ende der Sechser-Gruppe auf – wie der Aufpasser einer Bande von Jungspunden. Später konterte er am letzten Anstieg auf dem Weg ins Ziel nach Aprica aufmerksam einen Angriff von Kämna, hielt dabei einen noch nicht ausgepackten Energieriegel zwischen den Zähnen. Der routinierte Radprofi vom Team Movistar war sichtbar voll auf einen möglichen Etappensieg konzentriert. Doch ein paar Kilometer weiter war Schluss. Der Oldie musste die Jüngeren ziehen lassen – am Ende seiner Kräfte. Valverde wollte, aber er konnte nicht mehr.
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Ja, dies ist meine letzte Saison, wirklich und endgültig
Für den Spanier wurde an diesem Tag wohl endgültig klar, dass seine Zeit abgelaufen ist. „El Bala“, das Geschoss, wie er einst getauft wurde, weil er bei großen Rennen dank seiner Beschleunigungsfähigkeit nach mehr als 200 Kilometern noch mit explosiven Antritten gewinnen konnte, zischt nicht mehr davon, er ploppt gleichsam nur noch aus dem Lauf. „Ja, dies ist meine letzte Saison, wirklich und endgültig“, versicherte Valverde am Rande des Giro. Die Spanien-Rundfahrt soll seine große Abschiedstour durch die Heimat werden – jenes Rennen, dessen Gesamtwertung er 2009 für sich entscheiden konnte und bei dem er zwölfmal als Tagessieger jubelte.
Ende einer Radsportkarriere
Damit neigt sich eine große, wenn auch umstrittene Radsportkarriere dem Ende zu. Fast 220.000 Rennkilometer an mehr als 1.300 Renntagen hat Alejandro Valverde bis Mitte 2022 zurückgelegt – zusammengerechnet mehr als fünf Erdumrundungen auf Äquatorhöhe im Wettkampfmodus!
133 Siege hat er dabei errungen – zuletzt wurden es jedoch Jahr für Jahr weniger, vor allem auf allerhöchstem Niveau. Ausdauernd, kletterstark und schnell im Sprint: Der schmale Mann aus der Region Murcia prägte zwei Jahrzehnte im Profi-Radsport – erst im Trikot von Team Kelme (2002 bis 2004), danach durchgehend beim heutigen Team Movistar und dessen Vorgängern Illes Balears und Caisse d’Épargne.
Späte Krönung in Innsbruck
„Der wichtigste und schönste Sieg war der Weltmeister-Titel. Denn ich habe so lange darauf hingearbeitet“, so sein Resümee. Sechsmal war er zuvor schon aufs Podium bei Straßen-Weltmeisterschaften gelangt. Bei der zwölften WM-Teilnahme in Innsbruck 2018 klappte es dann endlich mit dem Gewinn des Regenbogentrikots – als kaum mehr jemand mit dem Mann im damals schon fortgeschrittenen Alter von 38 Jahren gerechnet hatte.
Es war die späte Krönung einer Karriere, die früh und vielversprechend begann: Im Alter zwischen elf und dreizehn Jahren gewann Alejandro Valverde in seiner Heimatregion Murcia jedes Rennen. Das staunende Milieu verpasste ihm den Spitznamen „El Imbatible“, der Unschlagbare. „Das sind natürlich tolle Erinnerungen, drei Jahre ohne Niederlage. Ich war damals aber auch viel nervöser als heute“, erzählt Valverde. „Ich verspürte ungeheuren Druck. Es erschien mir schlimm, wenn ich nicht gewinne. Erst mit den Jahren habe ich gelernt, mit Niederlagen umzugehen. Denn im Radsport verliert man häufiger als man gewinnt“, blickt der altersweise Valverde zurück.
Alejandro Valverde bezwang Armstrong im Bergsprint
Ins Bewusstsein der Radsport-Weltöffentlichkeit katapultierte er sich 2005, als er bei der Tour de France im Bergsprint in Courchevel Lance Armstrong bezwang. „Es war meine erste Tour de France überhaupt. Ich habe gegen Männer gewonnen, die damals das absolut höchste Niveau repräsentierten. Das war eine große Sache“, erzählt Valverde. Spaniens Radsport-Fans hofften zu jener Zeit auf eine neue goldene Ära, eine Fortsetzung der Indurain-Jahre mit Abonnement auf Siege bei den großen, dreiwöchigen Etappenrennen. Auch Valverde selbst hatte diese Hoffnung. „Natürlich gab es Jahre, in denen ich versucht habe, die Tour zu gewinnen. Ich habe mein Bestes gegeben. Einmal hat es zumindest mit dem Podium geklappt“, erinnert er sich. Die Wiederholung gelang ihm nicht, aber sieben Top-Ten-Platzierungen, darunter ein dritter Platz 2015, zeigen bei insgesamt 14 Teilnahmen eine beachtliche Konstanz bei der Frankreich-Rundfahrt.
Lorbeeren vom Chef
„Alejandro verfügt über ein enormes Talent. Er kann sich unglaublich gut erholen. Das führt dazu, dass er über lange Phasen der Saison ein hohes Niveau halten kann“, sagt sein langjähriger Teammanager Eusebio Unzué. Der Chef hebt auch seine fast beispiellose Vielseitigkeit hervor: „Er kann fast alles. Er hätte zu einem ganz großen Klassikerfahrer werden können. Er hat sich dann aber stärker auf die Rundfahrten konzentriert. Mit ihm hatten wir das Privileg, bei fast jedem Rennen auf Sieg fahren zu können. Er hat in einem ganzen Land die Illusion wachgehalten, immer gewinnen zu können.“
Was wäre wenn...?
Aber wäre nicht sogar mehr drin gewesen als die 133 Siege in 21 Profijahren? „Mich beschäftigt das nicht“, behauptet Valverde. Und auf die Frage, ob der Fokus seines Rennstalls auf die Tour de France und die großen Etappenrennen weitere große Klassikersiege verhindert habe, reagiert er fast brüsk: „Reichen die Klassiker nicht, die ich gewonnen habe, vor allem Lüttich-Bastogne-Lüttich? Ich habe mehr Podiumsplätze als Eddy Merckx, der der Beste aller Zeiten ist, und fast so viele Siege wie er. Hätte ich noch Paris-Roubaix fahren sollen? Mit meinem Gewicht ist das schlicht nicht realistisch.“
Er lässt lieber die Beine sprechen
Der Mann aus Murcia zeigte sich stets als Realist und Pragmatiker. Überhaupt schätzt, wer öfter mit ihm zu tun hat, seine Bodenständigkeit. Valverde ist kein exzentrischer Star. Er wirkt nach außen oft einsilbig, war immer einer, der lieber die Beine als die Zunge sprechen ließ. Da mag auch die Herkunft eine Rolle spielen. „Wenn ich nicht Radprofi geworden wäre, wäre ich wohl Lastwagenfahrer geworden“, sagte Valverde einst. So wie sein Vater. Gut, dank seiner Erfolge leistet er sich mittlerweile einen Ferrari.
Aber in der Heimatstadt Murcia geht er angeblich noch immer in dieselben Cafés wie früher und umgibt sich mit der Clique aus der Jugendzeit. Das sagen jedenfalls die Kumpels, die einen Valverde-Fanclub gegründet haben und Videoschnipsel von gemeinsamen Trainingsfahrten und Kaffeepausen im Internet posten.
Dunkles Kapitel der Karriere von Alejandro Valverde
Es hängt jedoch nicht nur mit der Ausrichtung des Rennstalls, sondern auch mit dem dunklen Kapitel in Valverdes Vita zusammen, dass er nicht noch mehr Trophäen im Schrank stehen hat: seiner zweijährigen Dopingsperre in den Jahren 2010 und 2011. Als „Valv. Piti“ stand er auf der Kundenliste des Madrider Frauenarztes Eufemiano Fuentes, die im Zuge der spanischen Polizei-Ermittlungen zur „Operaçion Puerto“ in Teilen öffentlich wurde. Der Dopingarzt versorgte über viele Jahre die Elite des Rennsports, von Jan Ullrich bis Ivan Basso, mit Blutbeuteln und individuell abgestimmten EPO-Rationen. Ullrichs Karriere war danach schlagartig beendet. Basso kehrte zurück, allerdings auf niedrigerem Niveau. Valverdes Karriere hingegen setzte sich nach der zweijährigen Sperre nahtlos fort.
Keine fragen zur Operation Puerto
Vier seiner fünf Siege beim Flèche Wallonne holte der Spanier nach der Sperre, zwei seiner vier Triumphe in Lüttich ebenfalls. Seine von Teamchef Unzue so bewunderte Erholungsfähigkeit blieb ein Erfolgsfaktor – in Zeiten der Hochphase des EPO-Dopings ebenso wie in der folgenden Ära der Mikrodosierungen und des vermeintlich sauberen Radsports. Das ist bemerkenswert. Auf dieses Thema wird er ungern angesprochen. „Keine Fragen zu Puerto“, ließ sein Rennstall Movistar vor dem Gespräch für den Karriererückblick ausrichten. „Ich denke, der Radsport jetzt ist supersauber. Wir werden sehr genau kontrolliert. Da hat sich viel verändert“, ließ sich der scheidende Routinier zum Dopingproblem auf Nachfrage vernehmen.
Begeistert von Pogačar
Eines hat sich im aktuellen Radsport jedoch definitiv verändert: die Fahrweise in den Rennen. „Es wird jetzt aggressiver gefahren als früher. Das finde ich gut“, schwärmt Valverde. Ihn begeistere geradezu, wie Pogačar oder van der Poel fahren. „Das sind klasse Rennfahrer, mit Instinkt, mit Ideen.“ Längst ist der Generationswechsel eingeläutet – dass er selbst dennoch bis ins hohe Rennfahrer-Alter mehr als passabel mithalten konnte, schreibt er seinem Training zu. Das sei bereits auf geringere Umfänge und höhere Intensitäten ausgerichtet gewesen, als viele andere noch auf lange Ausfahrten setzten. „Ich denke, das ist auch eine Ursache für meinen Erfolg. Ich hatte niemals Wochen mit 30 oder 32 Stunden Training, sondern immer zwischen 20 und 25 Stunden maximal. Der Fokus lag auf Geschwindigkeit“, erläutert er. Bevor Alejandro Valverde nur noch für lockere Ausfahrten mit den Kumpels aufs Rad steigen und mehr Zeit für seine vier Kinder haben will, will er bei der Vuelta a España gerne noch eine Etappe gewinnen. Es wäre sein 13. Tageserfolg.
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Vor 19 Jahren gewann er in der Sierra de la Pandera. Dort, wo er 2003 seinen internationalen Durchbruch bestätigte, endet in diesem Jahr die 14. Etappe. Ein Kreis würde sich schließen.
Neues Team-Trikot zu Ehren von Alejandro Valverde
Kürzlich präsentierte das Team Movistar das neue Team-Trikot, welches zu Ehren von Alejandro Valverde entworfen wurde.
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